Ich sitze auf einer Parkbank. Der milde Frühlingstag klingt ab. Die Luft ist herrlich frisch, aber noch nicht kalt. Der Himmel über der Wohnsiedlung ist beinah wolkenfrei. Nur zarte dunkelblaue Fetzen verzerren das sanfte rosa der Sonne. Den Sonnenuntergang kann man heute nur erahnen. Die strahlenden Farben mancher Tage fehlen. Dafür zwitschern die Vögel. Aber auch sie beenden den Tag langsam, sie trillern leise und untermalen das Rascheln der noch blattlosen Bäume. Durch die Luft wabert ein Duft, der über den Winter fast in Vergessenheit gerät: Jemand grillt.
Aus dem Kopfhörer sticht eine Songzeile hervor „It’s a perfect day“. Den Blick auf den Horizonz gerichtet wandern meine Gedanken zu den Dingen, von denen ich mich gern ablenke. Es ist ein guter Momement in mich zu gehen, nachzuhorchen, herauszufinden, was ich machen möchte. Vor einer Weile habe ich mit meinen Eltern über die erste Zeit nach dem Unfall gesprochen. Warum die Ärzte mich wochenlang nicht haben wissen lassen, wie miserabel meine Situation eigentlich ist. Ich fand das bisher immer grundlegend falsch. Sie erzählten, dass sie am Unfalltag im Krankenhaus ankamen und gar nicht zu mir durften, sondern erst ins Büro des Chefarztes mussten. Er hat sie ins Bilde gesetzt und gebrieft, was sie in meiner Gegenwart nicht sagen sollen. Als sie dann bei mir waren, war es wie im Film. Ich lag im weißen Krankenhausbett. Ein paar kleine Schläuche lugten unter der Decke heraus und führten zu merkwürdigen Geräten. Am Fußende standen meine Eltern und schauten mir beim Aufwachen zu. Sie sahen mitgenommen aus. Eltern sollten so etwas nicht erleben müssen. Es tut mir unendlich leid, dass sie das alles meinetwegen durchmachen mussten.
Als ich aufwachte hatte ich leichte Schmerzen im Fuß. Je wacher ich wurde, umso schlimmer wurden die Schmerzen. Ich fand das logisch. Denn obwohl ich keine Erinnerung an den Unfallhergang habe, wusste ich, dass ich einen Unfall hatte und im Krankenhaus war. Für mich war es aber eben nur ein Unfall. Ganz sachlich – mehr gab meine Erinnerung nicht her. Für mich war es anfangs ein eher harmloser Unfall. Heute weiß ich, dass es anders war. Nicht nur ein einfacher Verkehrsunfall, sondern ein richtiger Unfall, der noch viel mehr hätte einfordern können als nur einen Fuß. Ich hatte wohl viel Glück und mein Schutzengel konnte wohl etwas schneller fliegen als ich fuhr. In diesem Juli 2015 war ich überzeugt davon, schnell wieder auf dem Sportplatz zu stehen. Ich ärgerte mich, dass ich die Vorbereitung verpassen würde. Gerade jetzt, mit einem neuen Trainer. Würde ich mich eben am Saisonbeginn beweisen. Langsam bekam ich mit, dass es wohl schlimmer war, als ich dachte. Was soll’s? Dann greife ich in der Winterpause wieder voll an und hole mir meinen Platz in der Startelf dann wieder. Auch damit hatte ich weit gefehlt.
Heute, 20 Monate später, weiß ich, dass ich bald wieder auf dem Sportplatz stehen werde. Dieses ‚bald‘ bleibt aber abstrakt. Ich nehme mir jetzt die Zeit, die es eben braucht. Auch hier, in dem Krankenhaus, in dem ich 18 Mal operiert wurde, in dem ich zum 9. Mal stationär verweile und mich selbst das Servicepersonal (wie es offiziell heißt) erkennt, durften meine Eltern nicht direkt zu mir zu Besuch. Der erste Weg ging in das Büro des behandelnden Chefarztes. Prof. R. stellte sich und Dr. L. vor.
Diese neuen Infos werden von grandiosen Therapien hier in der Reha in den Hintergrund gedrängt. In meinem Unterbewusstsein arbeitet es aber weiter. Und wenn ich mit den anderen hier spreche, kommt es wieder an die Oberfläche. Wie schlecht ging es mir eigentlich wirklich? Was haben Ärzte und Medikamente von mir weggehalten? Ich kann es nicht sagen, bin aber neugierig. Andereseits habe ich keine Angst im Straßenverkehr, habe keine Alpträume. Ich will gar nicht mehr über den Unfall wissen, als ich weiß. Nur über das danach. Oder will ich das vielleicht doch nicht? Heute geht es mir richtig gut. Würde sich das mit mehr Wissen ändern? Und wer würde mir meine Fragen ehrlich und ungeschmickt beantworten? Meinen Eltern will ich das gewiss nicht auflasten. Ausgeschlossen! Professor R. weiß bestimmt alles, aber wäre er da ehrlich oder vielmehr hart genug? Könnte er mich ansehen und Tacheles sprechen? Er ist eine Koryphäe auf seinem Gebiet, daran zweifle ich nicht. Er ist gewiss ein Chef, der durchgreift. Aber er ist auch ein Vater. Er hat einen weichen Kern und kann mich mit einem herzerweichenden Blick anschauen. Ich schätze und respektiere diesen Mann sehr. Schwanke aber, ob er der richtige Adressat für diese Frage ist.
Meine Antwort auf alle Fragen, Dr. L., ist zur Zeit nicht greifbar. Ich bin mir sicher sie würde wie immer den richten Ton treffen. Dann müsste ich aber auf meine neu erlernte Geduld zurück greifen. Wieder einmal. Und könnte ich mit diesen Infos dann einfach nach Hause fahren? Oder müsste ich dann mal wieder an jedem zweiten Parkplatz rausfahren? Spräche ich jetzt mit meinem Professor, könnte ich danach hier ins Bett fallen und mich von den Schwestern, Therapeuten und anderen Patienten auffangen lassen. Sie würden mich schließlich verstehen.
So geht es in meinem Kopf hin und her, während hinter mir langsam der Vollmond aufgegangen ist. Er ist noch weit von seinem Zenit entfernt, hat aber bereits die letzte Wärme eines sonnigen Märztages vertrieben. Mittlerweile ist mir frisch geworden. Mit dem letzten Licht verziehe ich mich wieder rein, drücke den Taster für die Tür. Sie surrt auf und gibt den Weg frei in grell beleuchtete Krankenhausflure und eine Realität, die mir allzu vertraut ist. Jedes Mal aufs Neue finde ich es merkwürdig, oder irreal, dass ich mich in dieser Umgebung heimisch fühle. So oft bin ich in den letzten Tagen durch die langen weißen Flure gewandelt, zielsicher, ohne darüber nachzudenken, wo ich lang muss, um mein Ziel zu erreichen. Lasse den Blick nur flüchitg über die Landschaftsbilder an den Wänden schweifen.
Oft schießt mir dieses Mal der gleiche Gedanke druch den Kopf: „Wie kam’s, dass du dich hier wohlfühlst?“ So viele Leute, die hier ein und aus gehen, die Monate hier verbringen und noch keiner hat mir gegenüber mal soewtas erwähnt. Es wundert mich nicht. All die Schicksale, die einem hier über den Weg laufen, krückeln, rollen. All die Menschen, die von einem Unfall gezeichnet sind. Nicht jedem sieht man das äußerlich an, aber in den Gesichtern der Meisten kann man es doch erkennen. Abgesehen von den Klinikangestellten ist wohl niemand wirklich freiwillig hier. Jeder hat etwas zu erzählen und jeder hat Erfahrungen gesammelt, auf die man getrost verzichten könnte.
Könnte man wirklich? Es gibt hier kaum leichte Fälle. Man kommt leicht ins Gespräch: „Und, was hast du so?“ Keiner hier Antwortet nur: „Ach, Arm gebrochen.“ Jede Antwort ist länger. Nicht, weil wir unsere Geschichten so gern der ganzen Welt zum 1000 Mal erzählen sondern weil es einfach nicht kürzer geht. Das Gute daran: Man ist sich gewiss, dass der Gegenüber versteht wovon man spricht. Es wirklich versteht. Ein Großteil der Patienten weiß was es heißt ein zweites Mal im Jahr Geburtstag feiern zu dürfen. Und wir sitzen (dennoch oder gerade deshalb?) gemeinsam im Bistro und lachen. Manchmal nur leise, oft auch laut. Ohne Humor wären wir hier allesamt aufgeschmissen. Wir lachen darüber, wie wir mit den Rollis hoffnungslos an einer Schwelle hängen geblieben sind. Oder wenn die Physiotheapeutin sagt: „Und jetzt schmeißen Sie das Bein mal ordentlich nach hinten“, ich an die Prothese greife und andeute sie im hohen Bogen hinter mich zu pfeffern. Wir lachen über Arztwitze. Vor allem, weil ja auch ein Quäntchen Wahrheit darin steckt.
Es gibt aber auch in der Gruppe diese Momente, die ich oft nur ganz für mich erlebe. Dann erkennen wir alle, wie viel Glück wir doch hatten. Selten aber ist der Moment passend es anzusprechen. Selten wagt es jemand es laut auszusprechen. Selten findet jemand die wirklich richtigen Worte. Aber es passiert. Ein Rehapatient, der am kommenden Tag nach Wochen hier entlassen wurde, sagte:
„Wir müssen ja alle dankbar sein. Es gibt viele, die so einen Unfall hatten wie wir und die nicht so weit gekommen sind.“
Wir haben uns darauf gegenseitig alle angeschaut. Ich bin dankbar
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