Wolken und Gedanken

Schau dir das heutige Beitragsbild gut an, denn am Donnerstag gab es diesen wunderschönen Sonnenaufgang. Er war nicht nur schön, ich dachte ich schaue in den Spiegel meiner Seele. Er schillerte in schönsten orangenen, roten und lila Tönen. Aber die Sonnenstrahlen an sich kamen nicht durch. Sie versteckte sich noch hinter einem Wolkenschleier, als könne der Tag sich noch nicht entschließen ob es Sonne oder Regen geben soll. Der dicke Schleier wurde nach oben lockerer, zerrissen und irgendwie aufgewühlt.
Und das bin ich. Nur gute Neuigkeiten und dennoch…

Diese Neuigkeiten sind, dass die Narbe am Stumpf nun endlich gut verheilt ist! Das heißt, in einer Woche darf ich wieder in die Belastung und das Projekt „laufen“ wieder beginnen. Das heißt, dass ich wieder schwimmen gehen darf und das ist immerhin Sport. Das heißt auch, dass ich jetzt nach

454 Tagen oder
64 Wochen und 6 Tagen oder
1 Jahr, 2 Monaten, 3 Wochen und 5 Tagen

keine Medikamente mehr nehme. Das erste Mal seit all der Zeit bin ich wirklich wieder völlig clean! Noch stehen sie zwar sichtbar an ihren mittlerweile angestammten Plätzen, aber das wird sich demnächst ändern.

In diesen 65 Wochen wurde ich konstant von Ärzten begleitet. Im Grunde ist die Aufgabe eines Arztes einfach herunter zu brechen. Wehwehchen finden und behandeln. „Sie haben Schnupfen, sie brauchen mehr Vitamine.“ „Sie sind schlapp, gehen Sie mir eine Luft.“ „Sie haben sich den Arm gebrochen, sie brauchen einen Gips.“ „Ihr Fuß ist völlig zerstört, vielleicht besser amputieren.“ Es scheint ganz einfach, aber sie hat soviel mehr gemacht.Sie hat behandelt, was andere angefangen haben und war darüber hinaus immer da. Über ein Jahr lang, außer sie war selbst krank. Und jetzt soll das bald aufhören? Das geht doch nicht. Dieses Krankenhaus und Frau L. gehören, so traurig das auch klingen mag, mittlerweile zu meinem Leben. Und das muss ich gehen lassen? Ich weiß noch nicht wie das funktionieren soll. Katharina sagte, das sei vielleicht wie mit Kindern. Man wisse, dass man irgendwann loslassen müsse. Und das würde ich gern. Aber es war noch nie so gut, das es realistisch war. Direkt nach der Amputation sah es zwar so aus, aber da war dieses Gefühl, dass ich wieder komme. Ich kam wieder. Dieses Gefühl habe ich jetzt nicht.

Wie das wohl ist, nicht jeden Monat mindestens einmal ins Krankenhaus zu fahren? Das kann ich mir einfach nicht vorstellen. Vielleicht habe ich einfach Angst davor? Weil es jetzt ohne Ärzte gehen kann? Weil ich es jetzt aus eigener Kraft hinbekommen kann? Vielleicht habe ich diese Angst. Bescheuert!

Rudyard Kipling sagte: „Von allen Lügen der Welt sind manchmal die eigenen Ängste die schlimmsten.“

Nur warum fühle ich das so? Ich müsste mich freuen und Freudentänze aufführen wollen. Doch nichts. Das Bei der letzten Kontrolle vor ein paar Tagen sagte Doktor L: „Das sieht gut aus.“ Und noch nie, wirklich noch nie, war es wirklich Ernst gemeint. Diesesmal schon. Über ein Jahr lang durfte ich mir immer wieder anhören „Ja das wird“ oder „Es ist besser geworden“ oder „Es geht aufwärts“. Noch nie gab es wirklich die ernst gemeinten Worte „Das sieht gut aus“. Und es ging noch weiter. Ich brauche im Normalfall keinen neuen Kontrolltermin. Das ist so neu, dass ist mich ziemlich verwirrt. Es ist also wirklich gut. Es fehlt nur noch die Reha. Wahnsinn!

Seit diesem vermeintlich letzten Termin in allzu vertrauter Umgebung habe ich viel nachgedacht. Aktiv und passiv. Immer wieder gehen meine Gedanken zu dieser einen Ärztin, der ich so viel verdanke.Sie war immer da. Hat jeden kleinen Fortschritt und jede noch so große Pleite miterlebt. Sie hat mir zugehört, egal ob gut oder schlecht. Sie hat mich im richtigen Moment ermutigt und aufgebaut. Trotzdem nie die Wahrheit verschwiegen oder sie schön geredet, egal wie knallhart oder bitter sie auch war. Sie versteht meinen Humor, den normalen und den Galgenhumor. Irgendwie war sie seit Juli 2015 Einfach immer da und mehr als nur eine Ärztin. Das Soll sich jetzt ändern?

Dr. L war der einzige Mensch, der mich in der ganzen Zeit begleitet hat, bei dem ich zugelassen habe ihr voll und ganz zu vertrauen. Habe sie nicht weggestoßen, wie andere manchmal. Ab jetzt bin ich weniger auf sie angewiesen, weil sie aus medizinischer Sicht nicht mehr da sein MUSS. Es war wichtig, dass sie da war und es war gut so. Jetzt geht es weiter, vielleicht ohne Ärzte. Das muss ich noch richtig verstehen und annehmen.

Je mehr Leuten ich sage, dass es jetzt wirklich gut ist, umso greifbarer wird es auch für mich. Die nächsten Tage heißt es also: langsam begreifen, „Trennungsschmerz“ überwinden. Und nächste Woche? Ran an die Prothese.

Der Tag mit dem Sonnenaufgang war dann übrigens sonnig und warm.


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