Erkenntnisse eines Wochenendes

Was für ein Wochenende! Es war toll, entspannend und doch auch sehr intensiv. Aber es war vor allem eins: spontan. Spontan ist ein Wort, dass es in meinem Leben schon lange nicht mehr gegeben hat. Und jetzt war es endlich wieder so weit.

Ein paar Leute aus meiner Fußballmannschaft hatten schon länger geplant übers Wochenende gemeinsam wegzufahren. Dafür haben sie vor einer Weile schon ein großes, unendlich schönes Haus in wunderbarer Umgebung gemietet. Bereits vorige Woche kam die erste Frage, ob ich nicht mit möchte. Doch ich war vom Urlaub noch platt, sodass ich dankend abgelehnt habe. Dann kamen aber weitere Fragen von anderen aus der Gruppe und am Donnerstagabend habe ich dann doch meine Tasche gepackt und bin Freitag nach der Arbeit in dieses Wochenende gestartet.

Es war das Wochenende, an dem ich das erste Mal vor einer Treppe kapituliert habe und sie nicht mit Krücken erklimmen konnte. Unser Haus war alt, die Treppe steil und die Stufen verdammt schmal. Selbst meine zweibeinigen Freunde mussten in angepasstem Laufstil hoch oder runter, denn ein Fuß passte nur quer vollständig auf eine Stufe – selbst bei Schuhgröße 36. Wenn nun aber oben das Kamin- und die Schlafzimmer sind und unten die Bäder und die Küche, muss man einfach dann und wann die Etage wechseln. Nur wie? Ganz einfach: auf den eigenen vier Buchstaben. Als Kind war das immer ein großer Spaß und ich muss sagen, auch mit 27 ist das ganz witzig.

Es war auch das Wochenende, an dem etwas passiert ist, womit ich noch nicht gerechnet hatte. Die Atmosphäre unserer Unterkunft und der prasselnde Kamin waren so ansteckend, dass es wunderbar entspannt war und wir viel zusammengesessen und gequatscht oder richtig Musik gehört haben. Und das war wundervoll! Ich hätte nicht gedacht, dass ich es schon wieder so genießen könnte einfach nichts zu tun. Aber es war ein Traum. Auch ich konnte nach all der Zeit mal wieder die Seele baumeln lassen und nur an schöne Dinge denken. Und das habe ich auch diesen lieben Menschen zu verdanken, die mit dort waren. Es war so schön, dass ich auch mein Vorhaben für Sonntag über den Haufen warf und noch eine zweite Nacht und einen weiteren Tag in unserem Domizil verbrachte. Man lebt schließlich nur einmal, warum es sich dann nicht schön machen wenn es geht?!

Es war auch das Wochenende, an dem ich eine Person gefunden habe, die mich ziemlich gut versteht. Diese Freundin habe ich seit dem Unfall oft gesehen und wir haben uns natürlich auch unterhalten. Aber bisher noch nie so, wie dieses Wochenende. Es ging tief, es war anstrengend. Noch habe ich es garantiert nicht alles verarbeitet, dennoch weiß ich schon heute, dass ich viel daraus mitgenommen habe. Schon allein jemanden zu kennen, der versteht was man da sagt und wie man sich fühlt ist unendlich hilfreich. Nicht stark sein zu „müssen“, weil der andere weiß, dass es anders ist. Und auch auf einer anderen Ebene miteinander zu sprechen. Ich habe ehrlich seit dem Unfall nicht ein einziges Mal so lange am Stück geweint und einfach alle Emotionen raus gelassen – inklusive der Schimpfworte, die kaum ausreichen zu beschreiben, in welcher Situation ich stecke. Wir haben lange gesprochen und ich werde mich noch oft daran erinnern. Ich kann und möchte auch gar nicht alles hier wiedergeben. Aber eine Sache, die sie gesagt hat, war stark und hat mich tief berührt.

Wenn man eine traumatische Situation erlebt, die dem Körper als Ganzes zu viel ist, hat das Gehirn eine wahnsinnige Macht. Es stellt nämlich um und lässt viele Emotionen gar nicht erst zu. Es passiert zunächst nur das, was passieren muss, um physisch zu heilen. Es wir keine noch so kleine Ressource verschwendet. Alles konzentriert sich darauf physische Wunden heilen zu lassen. Es kommt dann häufig vor, dass ich mich wie im Autopilot befinde. Ich mache nur das, was sein muss, der Rest ist auf gewisse Weise egal. Man funktioniert. Und das kann lange so gehen. Wie oft habe ich gehört ich sei eine coole Sau, tough, eine Powerfrau? Unzählige Male. Die meisten glauben, meine Entscheidung für die Amputation hätte ich rational gefällt. Ja, es war viel Rationalität dabei. Aber ich habe seit dem Unfall gelernt, dass man sich im Leben viel mehr fragen muss, wie man sich mit etwas fühlt. Ich gebe gern zu, dass ich Gefühle oft verfluche und versuche zu vermeiden. Ich habe gern die Kontrolle und bin gern rational. Das geht nur schlichtweg nicht immer. Meine Entscheidung basierte viel auf der Antwort zu der Frage: „Wie würde ich mich damit fühlen?“

In diesem Gespräch ging es viel darum, wie es in einem aussieht. Wie es in mir aussieht. Ich finde es schrecklich, wie anfällig ich derzeit bin und welche Kleinigkeiten mich völlig aus der Bahn werfen können. Ganz egal ob es gute oder schlechte Kleinigkeiten sind. Gerade fühle ich mich psychisch so instabil wie nie. Und bis zu diesem Wochenende habe ich das nicht verstanden. Warum gerade jetzt? Und warum überhaupt? Bisher bin ich auch gut ohne übermäßig viele Emotionen ausgekommen – von einzelnen Tagen mal abgesehen. Warum dann jetzt?

Jojo hatte eine sehr gute Antwort parat. Mein Körper ist jetzt so weit, dass die physischen Wunden verheilt sind oder beinahe verheilt sind. Ich wäre rein physisch jetzt so weit genesen und stark genug, mich mit dem psychischen Schaden auseinander zu setzten. Und wer behauptet, das wäre leicht, der hat viel Glück gehabt im Leben. Denn diese Person weiß nicht, was es heißt wirklich unter etwas zu leiden. Dass ich jetzt sagen kann, die Amputation ist eine beschissene Sache, das ist gut. Das ist ein weiterer Schritt im Heilungsprozess. Es geht nicht darum zu sagen: Jetzt ist es gut. Gewiss eben nicht. Ich war dort, wo man nur eine Sache sagen kann: „Es wird niemals wieder wirklich gut. Aber es wird besser als es jetzt ist.“ Und mein Fuß wird niemals wieder kommen. Aber es wird besser sein als direkt nach dem Unfall. Das ist das was zählt.

Nach wie vor gibt es für mich nur den Blick nach vorne. Nach wie vor bleibe ich Optimist. Nach wie vor habe ich Ziele. Zu wissen, wie ich mich wirklich fühle und diese Gefühle auch zuzulassen, das muss ich lernen. Gewiss nicht immer und bei jedem. Aber öfter als früher wäre durchaus gesund. Das ist nicht leicht. Es ist ganz im Gegenteil sehr anstrengend. Eine professionelle Therapie hilft dann, das weiß ich. Offen auszusprechen was in einem los ist, hilft auch. Diesen Mut muss man manchmal haben. Und nicht alle Menschen muss man davor schützen. Es ist unendlich hilfreich jemanden zu haben, bei dem man nicht mitdenkt und sich fragt „Wann wird es dem anderen zu viel?“. Das passiert mir oft. Eigentlich geht es mir selbst nicht gut, aber meinem Gegenüber ist manches was ich sagen könnte zu viel. Das versuche ich immer mitzubekommen. Lieber stecke ich weg, als andere auf eine Art wegen mir leiden zu sehen.

Es ist ein Weg. Ein langer Weg. Ein sehr langer Weg. Es wird besser!


Beitrag veröffentlicht

in

,

von

Kommentare

Schreibe einen Kommentar