Geschichte: Oh Tannenbaum

Er war schon immer etwas zu klein, zudem etwas krumm gewachsen und als er größer wurde, lehnte er sich an eine große Eiche, die ihn etwas stützte. Irgendwie schien es, als habe er einen schlechten Start ins Leben erwischt. Schon als sein elterlicher Tannenzapfen von einem kleinen buschigen Eichhörnchen entführt wurde und dann an einem ungünstigen Standort wieder fallengelassen wurde, war vorgezeichnet, dass er es nicht leicht haben werde. Etwas zu wenig Wasser, deutlich zu wenig Licht, aber die Luft, die war ausgesprochen gut. Die Eiche, die ihn stützte, war zwar ein guter Kamerad und auch im stärksten Sturm im wahrsten Sinne des Wortes eine standhafte Eiche, aber gleichzeitig brauchte sie viele Nährstoffe, die ihm dann wiederum fehlten. So führte er sein Leben lang ein Schattendasein, und stand nicht im Rampenlicht wie die anderen Tannen, die groß, stark und gut gebaut waren und im Leben besser dazustehen schienen. 

Sowohl er als auch die anderen Bäume standen an einem leichten Hügel und man hatte einen herrlichen Ausblick ins Tal, das jetzt um diese Jahreszeit kurz vor Weihnachten wie mit einem Zuckerguss überzogen in voller Pracht da lag. Selbst der in der Ferne liegende See war dieses Jahr zugefroren und wenn man ganz genau hinsah, konnte man kleine bunte Punkte sehen, die sich auf der Eisfläche hin und her bewegten. Im letzten Sommer als alles aufgeblüht war und in saftigem Grün dastand, war es etwas laut um ihn herum geworden. Dass hin und wieder Menschen den Weg entlang kamen, unweit dessen er stand, das kannte er. Aber dieses Mal waren es sehr viel mehr Menschen und sie kamen auch mit großen stinkenden Dingern daher und sie machten viel Krach. Menschen mochte er, warum konnte er nicht sagen, auch wenn sie ihn meist nicht einmal wahrnahmen. Was es mit diesen großen stinkenden Dingern und dem Krach auf sich hatte, merkte er schnell. Sie bauten eine Blockhütte, direkt neben seinem Kumpel, der Eiche. Zunächst dachte er, so jetzt wars das mit der Ruhe, aber es war dann doch halb so schlimm, denn es kamen nur hin und wieder Menschen, die meist nur ein paar Tage blieben und dann wieder gingen. Außerdem genossen diese ebenfalls die Ruhe und vor allem den grandiosen Ausblick.

waldVor ein paar Tagen war eine Familie mit einem kleinen Mädchen angekommen, die es sich in der Hütte bequem gemacht hatten. Sie sorgten dafür, dass das Feuer im Ofen der Hütte nie ganz aus ging und es so immer mollig warm war. Oft gingen sie auch nach draußen und genossen die Natur, zeichneten Schneeengel in den frisch gefallenen Schnee, veranstalteten lautstark eine Schneeballschlacht und fielen abends todmüde ins Bett.

Der Wald in dem er stand, lag nicht weit eines kleinen verschneiten Dorfes in dem die Menschen sich wie jedes Jahr darauf vorbereiteten, Weihnachten zu feiern. Während die einen hektisch durch den alljährlich aufgebauten Weihnachtsmarkt hetzten, nahmen sich andere etwas mehr Zeit, wärmten sich mit heißen Getränken und schlenderten eher gemütlich an den einzelnen Buden vorbei. Neben den Würstchenbuden und Glühweinständen gab es allerlei Krimskrams, Kitsch aber auch ganz Praktisches oder aber einfache und anspruchsvolle Handwerkskunst. Da Heiligabend nicht mehr weit entfernt war, wurde die Frage nach einem schönen gut gewachsenen Weihnachtsbaum immer bedeutsamer. Gleichmäßig gewachsen, gerade, dicht und schön grün. Frisch geschlagen natürlich auch, schließlich sollte er ja bis zum offiziellen Weihnachtsende zu Mariä Lichtmess stehen können, auch wenn heutzutage der Weihnachtsbaum von Glück reden kann, wenn er Silvester übersteht.

Angelehnt an seine Eiche beobachtete unser Tannenbaum jedes Jahr zur Weihnachtszeit wie sich aus dem Dorf eine Gruppe von Menschen aufmachte, um zwei der schönsten Tannen, die er doch immer wieder so sehr beneidete, zu fällen. Aus den Gesprächen, die die Menschen so führten, ging hervor, dass die eine Tanne auf dem Marktplatz und die andere in der Kirche stehen sollten. Prächtig geschmückt und von allen bewundert, ja, das wollte er doch auch einmal sein. Im Mittelpunkt von allem zu stehen, das war ein verlockender Gedanke. Doch schließlich nach den Festtagen als Brennholz zu enden, und vor allem diesen grandiosen Ausblick nicht mehr zu haben, machte ihn wieder genügsam. Er hatte im Laufe der Jahre gelernt, bescheiden zu sein und die großen Dinge hintenan zu stellen. Doch schön wäre es schon einmal …

Während er so seinen Gedanken nachhing, bemerkte er, wie sich der Vater um das kleine Mädchen kümmerte, das irgendwie traurig aussah und mit den Tränen kämpfte. „Aber warum können wir dieses Jahr keinen Weihnachtsbaum haben!?“ hatte sie schluchzend zu ihm gesagt. „Sieh mal, die Blockhütte ist doch viel zu klein und außerdem ist es doch besser, wenn die Tannen hier im Wald stehen bleiben können.“ hatte er erwidert. „Aber die andere haben doch auch alle einen, und es gibt doch so viele!“ versuchte sie hartnäckig doch noch ihre Vorstellung von Weihnachten zu retten. So ging es eine ganze Weile hin und her und auch am nächsten Tag schien ihr der Gedanke an ein Weihnachten ohne Weihnachtsbaum nicht zu gefallen. Nun, gerne hätte er ihr diesen Wunsch erfüllt, doch für die Blockhütte war er zu groß und naja, er war ja nun wirklich nicht der Schönste, so dachte er.

Dann war der Morgen von Heiligabend da. Er hatte es sich genehmigt, heute ausgiebiger als sonst in die Ferne zu schweifen, da die Luft klar und rein war und man heute weiter in die Ferne sehen konnte als an anderen Tagen. Geschützt unter dem Eichenbaum hatte er  nicht so viel Schnee abbekommen wie die anderen Tannen weiter unten, doch leicht gezuckert stand er ebenfalls da. Er mochte das, schließlich gab es ihm doch etwas Erhabenes. Doch irgendetwas irritierte ihn, denn trotz Windstille wackelten seine Äste immer wieder leicht hin und her und manchmal glaubte er ein leichtes Zwicken zu verspüren, wie im Frühjahr, wenn sich Vögel ein Nest bauen oder wenn Eichhörnchen durch seine Zweige turnten. Zunächst war es ihm nicht aufgefallen, aber dieses Zwicken und Ziepen hörte nicht auf. Zudem hörte er das kleine Mädchen aufgeregt plappern und lachen und auch die Eltern waren gut gelaunt und dann, ja dann traute er seinen Sinnen nicht. Das Zwicken war kein Zufall, ganz und gar nicht: Er wurde gerade als Weihnachtsbaum geschmückt! Glitzernde Kugeln hingen an seinen Ästen, rote und blaue, silberne und goldene. Sterne wurden dazwischen aufgehängt und vieles, vieles mehr. Und zu guter Letzt wurde ihm noch eine kleine Krone aufgesetzt. Er war so stolz wie in seinem ganzen Leben nicht und als es dunkel wurde und die aufgehängten kleinen Laternchen ihm zusätzlichen Glanz verliehen, glaubte er geradezu das Frohlocken der himmlischen Chöre zu hören. In diesem Moment wusste er, dass es gut war, an dieser Stelle zu stehen, so zu sein wie er eben war und er wollte mit keinem anderen Tannenbaum auf der Welt tauschen!

Dr. Klaus Mück, veröffentlicht auf www.forsea.de


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