Das neue Gefühl

Irgendetwas ist in der vergangenen Woche geschehen, das ich mir nicht erklären kann. Die Entwicklung ist durchaus positiv, aber wo kommt das so plötzlich her? Diese Frage gibt mir seit ein paar Tagen rätsel auf.

Es ist Woche 2 nach einer abgebrochenen Reha. Die Zeit, in der ich flüssig laufend in der Heimat sein wollte. In der Heimat bin ich, soviel stimmt jedenfalls. Laufend stimmt auch. Flüssig ist hier der Casus knacksus. Und anstatt meine Ungeduld ob dieser 100. unerawarteten Entwicklung ins Uermessliche zu steigern, ist genau das Gegenteil eingetroffen. Zehn Tage habe ich nach der Entlassung wieder auf Krücken verbacht. Rückblickend hätte ich bestimmt auch ein paar Tage früher wieder auf die Prothese umsteigen können. Aber so war es jedenfalls nicht verkehrt. 

Das war schon das Erste, das mich verblüfft hat. Vorbildlich und vernünftig habe ich lieber einen Tag länger auf die Freiheit meiner Prothese verzichtet. Wohlwissend, dass ein zu früher Umstieg zu mehr Blasen oder aufgeriebenen Stellen und das wiederum zu einer noch längeren Zwangspause führen könnte. Diese Voraussicht bin ich von mir in Gesundheitsfragen gar nicht gewohnt. Und auch in den ersten Tagen hielt ich mich fast genau an den Rat von Dr. L. stündlich den Stumpf zu begutachten. Den zweiten Teil der Aussage „und bei der kleinsten Abweichung vom Normalzustand“ musste ich gar nicht beachten. Denn es war alles gut. Anders war dieses Mal auch, dass ich nicht sofort wieder den ganzen Tag Prothese getragen habe. Davon hatte man mir im Krankkenhaus ja abgeraten. Karsten ist zwar ein Freund von ganz oder gar nicht, vorausgesetzt man hat keine Schmerzen. Aber es fühlte sich für mich richtig an hier und da eine Pause einzulegen. Und genau das habe ich im vergangenen Jahr gelernt: das zu machen, was sich sich richtig anfühlt. Etwas mehr auf meinen Körper und mein Gefühl zu hören.

Unser erklärtes Ziel war es der Geschite mit den Blasen auf den Grund zu gehen und die Ursache zu beseitigen. Denn Blasen nerven und halten einen Beinprothesenträger vom laufen ab. Mein Prothesenguru hat also Gangbild, Prothese und Stumpf begutachtet und in seiner großen Erfahrungskiste gewühlt. Dabei kam auch eine Lösung zum Vorschein! Ein anderer seiner Patienten (oder sind es hier Kunden?) hat trotz jahrelanger Prothesenerfahrung das gleiche Problem. Er hat etwa zeitgleich mit mir mein System bekommen. Also Vakuum mit Zylinder. Davor hatte er lange ein elektronisch gesteuerertes Vakuumsystem und nie Blasen. Der Zylinder saugt kontinuierlich jede Luft aus dem Schaft und generiert so einen Unterdruck, der die Prothese am Bein hält. Er saugt aber so stark, dass dadurch Blasen entstehen. Prinzip Knutschfleck, nur extremer. Was machen wir also? Wir steigen noch einemal um. Dem Vakuum werden wir treu bleiben, nur der Zylinder wird rausgeworfen. Dafür braucht es neue Komponenten und einen neuen Schaft. Ich beschäftige mal wieder alle ganz gekonnt und Karsten hat auch zwischen den Jahren eine schöne Aufgabe. 

Eine neue Prothese kann auch Karsten sich nicht mal eben aus dem Ärmel schütteln, also haben wir auch ein bisschen was an der derzeitigen Prothese verstellt, schließlich muss ich mit ihr noch bis nach Weihnachten laufen können. Das funktioniert ganz gut. Es gab keine neue Blase, nur der Knutschfleck am Stumpf bleibt erhalten. Mein Gangbild ist auch etwas besser geworden. Mein Phyiso war erfreut über weniger Bewegung im Oberkörper – Papa beschreibt diese immer mit dem Seemannsgang. Hier kommt vermutlich die Woche Krafttraining ins Spiel. Also werde ich mal sehen, wo ich das in meine Woche einbauen kann. Sollte die Prothese oder der Stumpf wieder Ärger machen, lohnt ein total makeover der Prothese erst mal nicht. Schließlich wird am neuen Modell gearbeitet. Das hieße auch, dann wieder auf Krücken umzusteigen. Und das Verblüffende: es stört mich nicht. Dann ist das so. Mein Kopf lässt keine Alarmglocken läuten, nimmt es einfach hin, nicht als möglichen neuen Rückschlag sondern als potentielle neue Etappe. Und das gibt mir die Ruhe sagen zu können: ich glaube, es wird eine ruhige Zeit bis zur nächsten neuen Prothese!

Ruhe und Besinnlichkeit in der Adventzeit sind weit verbreitet und halten auch bei mir Einzug. So genieße ich es derzeit noch mehr Freunde zu treffen oder Zeit mit meiner Familie zu verbringen. Genieße es vor allem dann, wenn ich bei anderen zu Besuch bin und selbstständig dorthin gelangt bin. Die Krankenhauserfahrung hat mir geziegt, wie wertvoll Unabhängigkeit für mich ist und momentan ist die Zeit, in der es mir sehr gut tut das auszukosten. Dazu dann eine Prise Zeit nur für mich und ich bin glücklich! Früher war ich nicht gern allein. Wollte nie abschalten, immer von anderen umgeben sein. Ich hatte fast nie das Bedürfnis mal nur genau das zu machen, was mir einfällt. Ich habe lieber irgendwas mit anderen gemacht, als allein das, was mir einfiel. Dabei tut das so gut. Vieles ist anders, aber es ist keineswegs schlechter!

Ich wünsche einen schönen 4. Advent!


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